Von Freddy Schissler, erschienen in der Zeitschrift "Aktiv im Leben"
(Baumeister-Verlag Schorndorf)
Heiße Nächte mit
irren Typen
Menschen sind unterschiedlich. Wann das besonders deutlich wird? Zum Beispiel beim Sommerurlaub. Die Mücken, die zu dieser Zeit Hochkonjunktur feiern, stechen ausschließlich mich.
Meine Frau kommt völlig ungeschoren davon und zudem mit brauner und glatter Haut nach Hause. Ich hingegen sehe aus wie ein Streuselkuchen, übersät mit Stichen, die rote Hügelchen bilden.
Und ich leide im Urlaub unter akutem Schlafentzug. Denn ich verbringe die meisten Nächte damit, um mich zu schlagen, diverse Mücken an weißen Zimmerwänden blutig zu drücken, mich mit
dem Kopfkissen beinahe zu ersticken, Räucherstäbchen anzuzünden und das Licht aus– und anzuknipsen. Meine Frau schläft tief und fest.
Für mich ist es ein Rätsel, weshalb ausschließlich ich von südländischen Mücken ausgesaugt werde. Natürlich befasse ich mich vor jedem Urlaub damit, entsprechende Abwehrmaßnahmen vor
den zu erwartenden Insektenangriffen zu ergreifen. Und habe auch davon gehört, dass vor allem Menschen mit süßem Blut Opfer dieser grausamen Tierchen sind. Weshalb ich Monate vorm Urlaub
keine Schokolade mehr gegessen habe, keine Marmelade, keinen Zucker, keine Bonbons. Ich bin sogar so weit gegangen, morgens zum Frühstück zwei Rollmöpse hinunter zu würgen, gefolgt
von Oliven und Tomaten mit Brot zur Mittagszeit sowie salzigen Brezeln am Abend. Das Ergebnis war niederschmetternd: Die Haut meiner Frau glich am Urlaubsende einem Samtteppich, jene
von mir ähnelte dem eines beackerten Kartoffelfelds.
Ich habe übrigens von Studien über menschliche Düfte gelesen. Die Wissenschaftler fertigten eine große Röhre an, die die Form eines Y besaß – einen Eingang und zwei Ausgänge. Der
Ausgang wurde mit menschlichen Körpergerüchen beduftet – von Freiwilligen, die sich zuvor in einen Kunststoffschlafsack gehüllt hatten. Dieser Kunststoff-Duft kam den Mücken an
Ausgang A entgegen. Am anderen Ausgang (B) warteten ganz „normale“ Menschen auf ihre Hinrichtung durch die Mücken. Ohne speziellen Geruch. Das Ergebnis? Na ja, eigentlich gar keines.
Die Mücken stürzten sich nicht nach einem bestimmten Schema auf ihre Opfer, sondern stachen einmal an Ausgang A zu, ein anderes Mal an Ausgang B. Je nachdem, ob ihnen die Testperson
zusagte oder nicht. Ich bin mir sicher: Wäre ich bei diesem Versuch dabei gewesen, hätte ich den gesamten Schwarm angezogen. Egal ob mit oder ohne Kunststoff-Duft.
Inzwischen machen sich seltsame Gedanken in mir breit. Hätte ich vor 30 Jahren bei der Wahl der Ehefrau nicht genauer hinriechen müssen? Hätte ich nicht Probeliegen sollen mit ihr in
einem Zimmer voller Stechmücken, bevor ich ihr das Jawort gab? Wie angenehm wäre heute ein Sommerurlaub für mich mit einer Frau, die noch viel intensivere Duftnoten abgibt als ich und
damit den Mücken signalisiert: „Kommt lieber alle zu mir und lasst meinen Mann friedlich schlafen.“
Nie wieder
Fassonschnitt
Viele Dinge im Leben ändern sich. Nicht immer waren sie früher besser. Nehmen wir den Besuch beim Frisör. Wenn ich heute daran denke, wie das früher war mit dem Haare schneiden, würden sich
am liebsten bei mir die Nackenhaare aufstellen – wenn ich denn dort noch so lange Haare besäße, dass sie sich aufstellen könnten.
Also, mein älterer Bruder und ich mussten als Kinder stets samstags zum Frisör gehen – mit meinem Vater im Schlepptau. Dass mein Bruder meist vehement den Kopf schüttelte, flehentlich
versicherte, alle anderen in seiner Klasse trügen viel längere Haare als er, dass er für seinen ständigen Stoppelschnitt schon Schmähung über sich habe ergehen lassen müssen und dass er gar
keine Zeit, sondern ein Fußballspiel im örtlichen Verein zu bestreiten habe, konterte mein Vater mit: „Keine Widerrede. Wir gehen am Vormittag, dein Fußballspiel ist erst am Nachmittag.“
Ich schwieg und fügte mich meinem Schicksal. Ich schwieg auch im Frisörsalon, der den Namen Bösinger trug. Erst heute fällt mir übrigens die viel sagende Verbindung zwischen Namen und
Institution auf. Natürlich hieß auch der Chef dort Bösinger und war in Doppelfunktion zudem der Vorsitzende des örtlichen Fußballvereins. Als er meinen Vater sah, begrüßte er ihn mit den
Worten: „Ist ja wieder mal nötig. Nicht dass die Haare beim Fußballspielen in die Augen hängen.“
„Einmal Fassonschnitt. Ordentlich was weg“, forderte mein Vater, und mein Bruder bäumte sich ein weiteres Mal auf: „Einen Rundschnitt. Bitte, Papa!“ Bei dieser Variante hätten etwas mehr
Haare auf unseren Köpfen überlebt. Aber Herr Bösinger und mein Vater waren sich einig: „Fassonschnitt.“ Herr Bösinger begann mit der Schere bedrohlich zu klappern. Mein Bruder und ich
verließen diesen Ort des Grauens wie frisch geschorene Schafe.
Heute genieße ich es, der Frisöse genaue Anweisungen zu geben, was mit meinen Haaren zu tun sei. Heute gehört mein Kopf mir ganz alleine. Weshalb ich es mag, hin und wieder intensiv in die
Kopfhaut hinein zu spüren, mir Informationen zu besorgen über die unterschiedliche Beschaffenheit von Haaren und mich mit meiner Frisöse in allen Einzelheiten über die Eigenart speziell
meiner kastanienbraunen Haaren zu unterhalten.
Da stört es mich nicht weiter, dass nach dem Besuch der Frisöse die Länge meines Haarschnitts exakt jener vor über 40 Jahren entspricht. Weil mir aufgrund intensiver Geheimratsecken schon
lange nichts mehr ins Auge hängen kann. Weil oben auf dem Kopf der Haarausfall seit Monaten nicht mehr zu stoppen ist. Und weil an den Seiten und im Nacken die Haare zuvor brechen, ehe sie
sich übers Ohr schlängeln könnten.
Einen Fassonschnitt würde ich dennoch niemals bei meiner Frisöse in Auftrag geben.
Freddy Schissler
Märklin:
Sehnsucht nach Freiheit
Man kann sich auf verschiedene Art dem Weihnachtsfest nähern. Bei uns zu Hause geht das meist so: Mein Sohn ist plötzlich ganz nett zu mir, bringt mir unaufgefordert die Pantoffeln, um sich
dann mit süßer Stimme zu erkundigen: „Könnten wir zusammen die Märklin-Eisenbahn aufbauen?
Märklin. Ein Wort mit vielerlei Bedeutung. Zum einen ist das eine Modell-Eisenbahn, gewiss. Aber eine Märklin bedeutet noch viel mehr für Vater und Sohn. Die Sehnsucht nach Ferne und Freiheit
dampft da auf zwei mitunter rostigen Schienen, der Wunsch, allen Alltagsärger zurück zu lassen am Bahnhof wie zwei schwere Koffer, die man nicht mehr tragen will.
Mein Sohn fühlt inzwischen wie ich. Auch ihm geht am Ende eines Jahres die Luft aus. Er will im Dezember zusammen mit seinem Vater in die Ferne fahren. Nach Amerika. Oder Spanien. Auch
Hannover wäre recht. Hauptsache weg. Selbst nach Mecklenburg-Vorpommern würden wir reisen. Wir beschließen auch in diesem Jahr, zwei Wochen vor Heilig Abend: Ab jetzt ist Märklin-Zeit.
Damit fängt das Drama an. In welches Eck auf dem Speicher haben wir letztes Jahr die Schienen verstaut? In welcher der 15 Kisten, die dort oben stehen? Wo haben wir den Trafo verpackt, und
wenn er endlich gefunden ist, lautet die weitere Frage: Weshalb fehlt am roten Kabel der kleine Stecker samt Gehäuse? Wir brauchen drei Tage, bis wir alle Teile gefunden haben – Schienen,
Weichen, Trafo, Tunells, Plastikbäume, Loks, Anhänger. Aber uns ist klar: diese Märklin-Eisenbahn wird nicht laufen. Weil irgendjemand vergessen hat, einen kleinen Stecker mit Gehäuse für das
rote Kabel am Transformator zu kaufen. Für meinen Sohn steht fest, wer dieser irgendjemand ist. Er spricht einen Tag lang nichts mehr mit mir. Drei weitere Tage dauert es, bis der
Ladenbesitzer, bei dem wir das fehlende Teil bestellt haben, uns mitteilt, dass die Lieferung angekommen sei.
Wir machen uns ans Werk, lassen die ersten Schienen ineinander gleiten. Aber: Der Trafo streikt. Also wieder ins Fachgeschäft. „Zwei Tage“, erklärt man uns dort, „werden schon nötig sein, um
das alte Ding zu reparieren.“
Mein Sohn und ich legen einstweilen unsere Sehnsucht nach der Ferne zurück in die Schublade. Nach zwei Tagen kramen wir sie wieder hervor und bauen eine anspruchsvolle Strecke auf, mit Außen-
und Innenkreis, mit Nebenstrecke und Abstellgleis. Das dauert, aber es lohnt sich. Wenn die Lokomotive funktioniert. Bei unserer, ein altes, aber sehr robustes Schweizer Modell, verschwindet
manchmal der Gummi am Antriebsrad. Auch in diesem Jahr. Zum Glück habe ich einen Kollegen mit technischem Geschick. Er hilft uns, benötigt aber drei Tage, um die Lok fahrtüchtig zu machen.
Danach vernichtet die Mutter meines Sohnes beim täglichen Staubsaugen mit einem versehentlichen Tritt Bahnhofsgaststätte, Wärterhäuschen und Bauernhof samt Kühe und Katzen.
Am 23. Dezember, hoffen mein Sohn und ich, können wir endlich unsere Sehnsucht erfüllen. Wir haben uns für Mecklenburg-Vorpommern entschieden. Weil wir ja einen Tag später wieder zu Hause
sein müssen. Am besinnlichen Heilig Abend.
Freddy Schissler
Zugegeben: Ich bin
ein Wetterjunkie
Es gibt Themen im Leben, die lassen sich durchkauen wie ein geschmeidiger Kaugummi. Stundenlang und bei jeder Gelegenheit. Dazu gehört das Wetter. Am Morgen beim Bäcker kann man sich darüber
unterhalten, am Nachmittag im Wartezimmer eines Arztes, wo man sich nach zweieinhalb Stunden die Frage stellt, weshalb eigentlich zuvor ein Termin ausgemacht worden war. An der Bushaltestelle
ist das Wetter mit anderen Wartenden ein Dauerthema oder an der Tankstelle, was speziell dort den Vorteil hat, dass man durch die Unterhaltung nicht dauernd auf die Zahlen auf der Zapfsäule
achtet, die sich gerade in diesen Tagen in unvorstellbar rasender Geschwindigkeit nach oben schrauben.
Ich gebe es frank und frei zu, ich persönlich kann mir ein Leben ohne dieses Topthema nicht mehr vorstellen. Was ich auch gestehe: Mein erster Blick am Morgen bei der
Zeitungslektüre fällt auf die Seite mit den Wettprognosen. Andere blättern von hinten in ihrer Tageszeitung, landen zunächst bei den Todesanzeigen oder den Sonderangeboten irgendeines
Lebensmittelmarktes. Ich schaue als erstes beim Wetter nach und könnte die Zahlen und Symbole, welch ein Zauber, stundenlang auf mich wirken lassen.
Zeitweise etwas wolkig, gelegentlich sonnig, im Süden breiten sich Regenwolken aus; es kommt ein Hoch, dann wieder ein Tief namens Hubert oder Anna-Lena (vermutlich ein
Doppeltief), später eine relative Feuchte, ergiebiger Dauerregen oder stark aufkommender Südwestwind: Mein Gott, wie ich diese Sprache liebe!
Ja, ich bin ein Wetterjunkie, abhängig von all diesen Spekulationen, Prognosen und forschen Behauptungen.
Seit unsere Nachbarn Besitzer eines iPhones sind, hat meine Wetterabhängigkeit noch mehr zugenommen. Es ist ihnen möglich, in jeder Lebenslage nach dem aktuellen Wetterstand zu
schauen. Ein Griff in die Hosentasche, Wetterseite auf dem iPhone aktiviert, und schon können sie mir mitteilen, wie das Wetter morgen Früh um 7.42 Uhr wird, heute Abend um 19.38 Uhr – oder
wie es gerade im Augenblick ist.
Ach, ist das herrlich! Unlängst sind wir mit ihnen am frühen Nachmittag auf der (überdachten) Terrasse gesessen, und ich hatte mitten im Gespräch über den zurückliegenden
Urlaub plötzlich das Bedürfnis, die Wetterlage für den späten Nachmittag dieses Tages zu erfahren. Der Nachbarssohn ließ sich nicht zweimal bitten, ließ seine Finger über die Tastatur seines
iPhones gleiten und verkündete stolz: „Temperatursturz von 5 Grad Celsius und Dauerregen. Es hat jetzt schon angefangen zu regnen.“
Ich lächelte zufrieden. Dann ging mein Blick durch die verglaste Überdachung Richtung stahlblauem Himmel. „Muss wohl eine Sinnestäuschung sein“, schoss es mir durch den
Kopf, und ich war sehr froh unter dem Dach der Terrasse zu sitzen, um nicht nass zu werden.
Freddy Schissler
Wie du mir,
so ich dir!
Foto: birgitH/pixelio.de
Das muss man sich mal vorstellen: Bei uns zu Hause hängt der Haussegen schief – und das wegen eines kleinen Dings von nur 17 Zentimetern Länge in zusammen geklapptem Zustand.
Zur Erklärung: Wir besitzen noch einen jener uralten Nussknacker, die lediglich aus zwei silbernen Stangen bestehen. An einem Ende sind sie zusammen geschraubt. Die anderen
beiden Seiten muss man kräftig gegeneinander drücken, dann knackt man die Nuss – oder sie zersplittert in tausend Teile.
Das Blöde daran: Diese zersplitterten Teile liegen danach auf dem Fußboden und unter der Couch. Oder auf derselben, sehr gerne auch in jenen Ritzen, wo Rückenlehne und Sitzfläche zusammen
stoßen. Nur wenige Nussteile rettet man nach dem lauten „Krrrrr“ zum anschließenden Verzehr in den Handflächen.
Ich freilich habe zuletzt eine sehr gute Ausbeute gehabt. Sofort stürzte sich meine Familie darauf und aß mir aus der Hand (Solch einen Tag sollte man sich übrigens
rot anstreichen im Kalender!). Allerdings: Beide, Sohn und Frau, mussten am nächsten Tag zum Zahnarzt und neue Plomben einsetzen lassen.
Meinen Einwurf, dass man sich bei so einem alten Ding von Nussknacker eben nie total sicher sein könne, ob nicht nach dem Knacken ein winziges Stückchen Schale zwischen die Nussteile gekommen
ist, konterte die Ehefrau mit einem einzigen Wort: „Das gibt Rache, mein Lieber!“
Irgendwie befällt mich nun die Angst vor den nächsten Erzeugnissen ihrer, zugeben, sehr beeindruckenden Backkunst: Ihr Kirschkuchen ist wirklich vorzüglich. Wenn er
keine Kerne versteckt hält.
Freddy Schissler
Vor der Prüfung
Mich, den Vater eines Schülers, plagte unlängst heftiges Kopfweh, der Bauch blähte, das wunde Zahnfleisch pochte. Die Nacht, die hinter mir lag, war nicht harmonisch verlaufen. Die meiste Zeit
lag ich wach auf dem Rücken und starrte an die Decke. Allerdings zählte ich keine Schäfchen, sondern murmelte Worte vor mich hin: „Wel-lig, fres-sen, Klapp-mes-ser; lang gezogener Doppellaut;
zusammengesetzte Vergangenheit; unbestimmter Begleiter …“
Das Vorbereiten auf eine so genannte Lernzielkontrolle meines Sohnes, wie das seine Lehrerin auszudrücken pflegte, hatte bei mir Spuren hinterlassen.
Lernzielkontrolle: Wie das schon klingt. Gefährlich. Furcht erregend. Bedrohlich. Zu meiner Schulzeit hieß das Klassenarbeit oder schriftlicher Test. Obwohl in dem Wort „Arbeit“ auch jede
Menge an Unannehmlichkeit steckt, war damals für Lehrer, Schüler und Eltern klar: 45-minütige Konzentration des Kindes (und nur des Kindes) oder ebenso langer Blick aufs Heft des Nebenmanns –
danach Aufatmen und Spielen gehen auf den Pausenhof.
Bei einer Lernzielkontrolle, dachte ich zumindest, liegt die Sache sicherlich anders. Hier wird generell und alles kontrolliert. Null Chance auf Augenkontakt mit dem Konkurrenten nebenan. Ich
stellte mir das Schreiben einer Lernzielkontrolle so vor: Die Kinder müssen auf dem Weg in einen mit Überwachungs-Kameras ausgestatteten und verwanzten Schreibraum einen Kontroll-Bogen
passieren – ähnlich wie jenem in einem Flughafen. Piepst es beim Durchgehen, heißt es Ablegen: Spickzettel, beschriebenes Lineal, präpariertes Brillenetui. Das Kind wird anschließend per
Datenübermittlung sofort gemeldet. Beim Schul- oder Jugendamt. Womöglich auch bei der Auswanderungsbehörde.
Fällt dann im sterilen Schreibraum der Startschuss zur Lernzielkontrolle, herrscht dort Grabesstille und es regiert die Lehrerin mit nach hinten gebundenem Haarzopf, Nickelbrille, Schlagstock
und Handschellen am Gürtel.
Wer zu wenige Aufgaben der Lernzielkontrolle lösen kann und nicht ans Lernziel ankommt, wird in einen anderen Raum geschleust und anschließend stundenlang verhört, weshalb er versagt hat.
Womöglich stellen dort uniformierte Kontrolleure fest, dass die Eltern an allem schuld sind und kündigen umgehend eine Erziehungszielkontrolle an. Dann würde auch ich Besuch bekommen von der
Frau mit Nickelbrille. Dann würde es auch mir an den Kragen gehen.
Nun, bevor Sie mich zu sehr bemitleiden: Der Besuch der Lehrer-Sprechstunde ein paar Tage später hat mein Leben wieder ins Lot gebracht und mir die Gewissheit gegeben: Ein sachliches Gespräch
zwischen Eltern und Lehrer wirkt noch immer Wunder. Immerhin habe ich auf diesem Weg erfahren, dass die Lehrerin meines Sohnes gar keine Brillenträgerin und eigentlich sehr nett ist. Dass
eine Lernzielkontrolle mitunter nur ein paar Minuten dauert und lediglich das abgefragt wird, was die Schüler zuvor im Unterricht durchgenommen haben.
Ach ja, und ein Klassenzimmer mit Überwachungskameras und Kontroll-Bogen konnte ich bei meinem Besuch in der Schule auch nirgends entdecken.
Freddy Schissler
Wie Fernsehschauen ohne Farbe:
Klassentreffen nach 30 Jahren
Wissen Sie, wie man merkt, dass man älter wird? Wenn Sie zu einem Klassentreffen eingeladen werden und sich nur noch dunkel an Namen ihrer ehemaligen Kollegen erinnern können. Geschweige denn
an die Gesichter. Ich bekam unlängst eine entsprechende Einladung – und bin nervös geworden. Das ist normal bei mir, wenn Prüfungen anstehen. Schon in der Schule war das so: Wurden Mathe-,
Französisch- oder Englischarbeiten geschrieben, brachte ich kaum einen Bissen hinunter. In einer Woche mit vier schriftlichen Tests konnte es sein, dass ich bis zu drei Kilo verlor. Gesund
ist das nicht. Ein Klassentreffen ist auch nicht gesund. Das ist eine einzige große Prüfung.
Man steuert das Schulgebäude an und steht plötzlich inmitten einer Gruppe alter Menschen mit grauen Haaren. Oder gar keinen mehr. Man lächelt unbeholfen, obwohl man am liebsten weinen würde.
Was nur, geht einem durch den Kopf, machen die Jahre mit den Menschen? Aber es bleibt keine Zeit für die Suche nach tiefsinnigen Antworten. Nun heißt es, die Prüfung zu bestehen. Immerhin
habe ich zwei Wochen zuvor im Rahmen eines intensiven Studiums Namen auswendig gelernt. Ob ich im Ernstfall die auch richtig zuordnen kann?
Bei einem Klassentreffen lauern überall Peinlichkeiten. Was, wenn man „Hallo Eugen“ sagt, aber Klaus-Dieter die Hand schüttelt? Womöglich konnten sich die beiden damals schon nicht riechen.
Man darf sich an so einem Tag keine Blöße geben. Immer lächeln, und wird man mit der Frage konfrontiert: „Na, wie geht’s dir denn so?“, darf man nicht ins Stottern geraten. Der Text, den man
aufsagt, muss sitzen: „Oh, ich bin sehr zufrieden. Beruflich und privat, alles bestens. Doch! Und selbst?“
Selbst Fragen zu stellen, ist in jedem Fall zu empfehlen. Das ist wie beim Fußball. Wer offensiv spielt und sich in der Hälfte des Gegners aufhält, kann sich keine Gegentore einfangen. Aber
merke: Wer fragt, muss Namen kennen. Bei den Männern ist das einfach. Da haben sich in aller Regel die Nachnamen nicht geändert. Bei den Frauen sieht das anders aus. Bei den meisten
jedenfalls. Natürlich hat bis zum Klassentreffen die eine oder andere noch immer keinen abbekommen und somit ihren eigenen Nachnamen behalten. Aber das ist eine Minderheit. Nun gibt es auch
jene, die sich schon damals, vor über 30 Jahren, nichts haben sagen lassen von ihren männlichen Schulkameraden. Gut möglich also, dass die eine oder andere verheiratet ist und dennoch den
eigenen Nachnamen trägt. So wie ihr Ehemann – der Arme.
Klassentreffen nach 30 Jahren. Das ist wie Fernsehschauen ohne Farbe, Schreibmaschine schreiben auf einer Olympia oder Musik hören unplugged. Die Rückkehr zum Ursprung, verbunden mit einem
Bündel an Namen, die man sich zwei Wochen lang eingehämmert hat.
Und was passiert am Prüfungstag? Man wird angesprochen mit den Worten: „Hallo Alfred Schüssel, was machst du denn inzwischen?“
Freddy Schissler
Auch Männer können kochen – na ja, nicht alle …
Karikatur: Hefele/Foto: Raab
Manchmal, jedenfalls ist das bei uns Zuhause so, befällt mich das fürsorgliche Gefühl, kochen zu müssen. Natürlich für die gesamte Familie.
Vielleicht sollte ich gleich zu Beginn mit dem Geständnis herausrücken, dass sich dieses Gefühl nicht sehr oft in mir breit macht. Was zur Folge hat, dass meine Kochkünste, na ja, sagen wir
so: an vielen Stellen ausbaufähig sind. Eigentlich an allen Stellen.
Ich erinnere mich genau, es war um diese Zeit herum vor einem Jahr. Im April beginnt die Spargelzeit. Ich liebe Spargelgerichte, und so hatte ich mich schnell entschieden: Heute zaubere ich
ein Spargelgericht auf den Familientisch. Das ist ein Festtag, wenn Mann am Herd steht bei uns zu Hause, und weil man an Festtagen nicht aufs Geld schaut, griff ich nicht zum Spargel aus
Griechenland oder sonstwoher, sondern zu jenem aus der Region. Der ist zwar teurer als der importierte Spargel, aber egal.
Ich war voller Elan, voller Esprit, voller Enthusiasmus. Da lässt sich doch ein Meisterkoch nicht von ein paar Euros bremsen.
Nun ja, wie soll ich es Ihnen erzählen? Die Soße Hollandaise schmeckte vorzüglich. Die Kartoffeln ebenso. Der Spargel, da bin ich mir noch heute sicher, hätte bestimmt ganz prima dazu
gepasst. Aber es gab leider so gut wie keinen. Irgendwie glitt er mir bei der Zubereitung durch die Hände.
Mit einem Messer, nicht zu stumpf, war ich den Spargelstanden beim Schälen zu Leibe gerückt.
Ich hatte mich bemüht, wirklich!
Am Ende aber musste ich mich wundern, wie schnell diese Dinger an Dicke und Länge verloren bei meiner Art des Schälens, um sich schließlich in ein Nichts aufzulösen. Ich war bedient.
Stundenlanges Schälen ohne Ertrag. Das ist wie ein Fußball-Finale, das man in der Verlängerung verliert. Nach dem Schlusspfiff steht man als dummer Tor da.
Für mich jedenfalls war die Kochsaison damit gelaufen. Den Hinweis meiner lieben Frau, dass fürs Vorbereiten solcher Gerichte ein super-praktischer Spargelschäler in der Küchenschublade
liegen würde und ich sie nur danach hätte zu fragen brauchen, nahm ich mit verbissener Miene entgegen. Die Bemerkung, dass das Schälen mit solch einem Ding kinderleicht wäre, und dass man
damit die äußere Haut des Spargels so entfernen könne, dass wirklich viel vom eigentlichen Spargel übrig bleibe, empfand ich als lästig.
Ihren Lobgesang auf die Soße und die Kartoffeln habe ich dann gar nicht mehr wahrgenommen.
Freddy Schissler
Von wegen Winterfreuden
Karikatur: Steinmeyer, Foto: Raab
Hätte ich mir doch nur im entscheidenden Moment auf die Zunge gebissen. Aber nein, man musste ja prahlen. Den Mund voll nehmen. Der eigenen Familie vor Augen führen, welch toller Hecht man einst
gewesen ist. Und dann dieses desaströse Ende. Bitter.
Das, ich schwöre es, wird mir kein zweites Mal passieren – hoffentlich.
Es begann am Frühstückstisch, als die ersten Schneeflocken vor unserem Küchenfenster tanzten. „Juhuu, der erste Schnee, wie herrlich!“, rief mein Sohn. Ich konnte, in Gedanken bereits beim
Auftauen des Autotürschlosses und beim Freikratzen der vereisten Fensterscheiben, seine Begeisterung nicht teilen. Was, fragte ich ihn, soll daran so herrlich sein?
„Dann können wir endlich zum Skifahren gehen“, antwortete er.
„Skifahren ist langweilig“, entgegnete ich. „Was soll am ständigen Hoch- und Runterfahren denn so spannend sein?“
Nun wohnen wir zwar im Allgäu, dennoch bin ich kein Skifahrer. Also dass wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich komme ich auf zwei Skiern einen Hang hinunter. Dessen jedenfalls war ich mir
ganz sicher, als ich mich beim Frühstück mit meinem Sohn in eine Grundsatzdiskussion über meine Skifahrfähigkeiten verwickeln und am Ende zur vollmundigen Ankündigung hinreißen ließ: „In deinem
Alter, mein Lieber, war ich Meister bei den Schwarzwälder Schulmeisterschaften. Selbst wenn ich schon 30 Jahre nicht mehr auf Skiern gestanden bin, brause ich dir heute noch immer davon.“
Was soll ich sagen: Der kleine Mann nahm die Herausforderung auf der Stelle an, ich war gefangen in meinem Netz großspuriger Worte und musste mich fügen.
Drei Stunden später standen wir am Skihang. So steil hatte ich ihn mir nicht vorgestellt. An dieser Einschätzung änderte auch der Hinweis meines Sohnes nichts, dass dies bitteschön der Hang für
Kinder und Anfänger sei. Der andere, der richtige, sei weiter rechts zu finden.
„Wollen wir hinüber gehen zu den richtigen Skifahrern?“ Ich wollte nicht. Mein Sohn genoss diesen Augenblick, in dem er erste Zweifel auf meinem Gesicht entdecken konnte. Im Grunde genommen
wollte ich nicht mal den Kinder-Hang hinauffahren. Aber blieb mir eine Wahl?
Also rauf auf den Berg – mit all den Kindern um die drei oder vier Jahre.
Warum nur hatte ich mir beim Frühstück im entscheidenden Moment nicht auf die Zunge beißen können?
Oben angekommen, schienen die Jahre der Schulmeisterschaften plötzlich in himmelweiter Ferne. Ich hatte keine Erinnerung mehr. War ich wirklich schon mal auf Skiern gestanden? Die Gedanken
kreisten, der Bauch rumorte, meine Finger wurden feucht. Mir war plötzlich schlecht.
50 Sekunden später war die Fahrt ins Ungewisse zu Ende. Ich lag im Schnee, die Skier beängstigend über Kreuz geschlagen, die Knie verdreht, das eine davon schon kurze Zeit später dick. Ich weiß
nicht, was mehr schmerzte auf der Heimfahrt: Die Beine oder jene Analyse meiner Fahrt, die mein Sohn in die Länge zog wie einen gut durchgekauten Kaugummi. Er genoss diese Momente.
Fest steht: Mich bringt in meinem Leben keiner mehr auf diese schmalen Bretter. Viel schöner finde ich ohnehin Schlittschuh zu laufen. Übrigens: Ich war mal früher ein ziemlich guter
Eishockey-Spieler. Ähhh, das behalte ich jetzt aber doch besser für mich.
Freddy Schissler
Im Dschungel der Technik
Foto: Raab
Noch immer frage ich mich, wie ich künftig mein Leben meistern soll. Schuld daran ist eine Bahnfahrt. Die kann Nerven kosten und uns deutlich machen, dass wir im Dschungel der Technik
mitunter hoffnungslos verloren sind. Mein Sohn und ich waren an diesem Tag spät dran, als wir am Hauptbahnhof ankamen. Wir rannten in die Bahnhofshalle. Vor dem Fahrkartenschalter hatte sich
eine lange Schlange gebildet. Also hin zum Automaten. Ich sage es Ihnen gleich: Ich hasse die Dinger. Im Gegensatz zu meinem Sohn, der sie toll findet. Da brauche man, belehrte er mich, nur
die Hand auf den Bildschirm zu legen und ein paar Mal zu drücken und schwuppdiwupp spucke der Automat eine Fahrkarte aus.
Ich wischte mit der Hand über den Bildschirm, drückte hier und dort – aber der Automat spuckte nicht. Stattdessen teilt er mir mit, dass ich den Zielbahnhof eingeben solle. Das hatte ich aber
schon dreimal gemacht!
Ich merkte, wie es hinter mir unruhig wurde. Ich drehte mich um und sah viele ungeduldige Menschen in einer ähnlich langen Schlange wie jene am Fahrkartenschalter. Mein Sohn drängte mich,
endlich die Fahrkarte zu lösen.
Ich begann zu schwitzen und startete einen neuen Versuch. Diesmal sprach ich leise vor mich hin, kommentierte jeden Schritt und sagte mir, dass ich schließlich auch wisse, wie man im Internet
surft. Das gab mir Sicherheit, brachte aber keinen Erfolg. Dass ich auch nach diesem fehlgeschlagenen Versuch, ein simples Ticket aus einem Fahrkartenautomaten herauszulassen, mit der flachen
Hand und voller Wut auf den Bildschirm schlug, fand mein Sohn peinlich und die Schlange an Leuten hinter mir verantwortungslos dem kleinen Jungen gegenüber.
„Der Automat ist kaputt“, stellte ich fest.
„Kann nicht sein“, widersprach mein Sohn. „Lass mich mal ran.“ Ich wich keinen Millimeter zur Seite und behauptete stattdessen mit leicht erhöhter Lautstärke: „Der Automat ist kaputt!“
Ich hasse diese Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn in aller Öffentlichkeit. „Jetzt lassen Sie schon Ihren Sohn ran. Wir haben es eilig.“ Ich kochte vor Wut, als ich feststellen
muss, dass sich die Öffentlichkeit in unsere private Auseinandersetzung einmischte. Dann spürte ich eine Hand an meinem Pullover: Man zog mich einfach nach hinten.
„Hier nimm! Unsere Fahrkarte.“ Mein Sohn streckte mir nach wenigen Sekunden das Bahnticket entgegen. Ich spürte, wie ich rot anlief im Gesicht, und bevor ich etwas sagen konnte, wurde ich
unsanft zur Seite geschoben. Die nächsten Reisenden drängten zum Fahrkartenautomat und ich frage mich noch immer, wie ich mich künftig alleine im Dschungel der modernen Technik zurecht finden
soll.
Freddy Schissler