Witzige, kuriose und skurrile Geschichten

Von Freddy Schissler, erschienen in der Zeitschrift "Aktiv im Leben"
(Baumeister-Verlag Schorndorf)

Heiße Nächte mit
irren Typen

Men­schen sind unter­schiedlich. Wann das beson­ders deut­lich wird? Zum Beispiel beim Som­merurlaub. Die Mücken, die zu dieser Zeit Hochkon­junk­tur feiern, stechen auss­chließlich mich. Meine Frau kommt völ­lig ungeschoren davon und zudem mit brauner und glat­ter Haut nach Hause. Ich hinge­gen sehe aus wie ein Streuselkuchen, über­sät mit Stichen, die rote Hügelchen bilden. Und ich leide im Urlaub unter akutem Schlafentzug. Denn ich ver­bringe die meis­ten Nächte damit, um mich zu schla­gen, diverse Mücken an weißen Zim­mer­wän­den blutig zu drücken, mich mit dem Kopfkissen beinahe zu ersticken, Räuch­er­stäbchen anzuzün­den und das Licht aus– und anzuknipsen. Meine Frau schläft tief und fest.

Für mich ist es ein Rät­sel, weshalb auss­chließlich ich von südländis­chen Mücken aus­ge­saugt werde. Natür­lich befasse ich mich vor jedem Urlaub damit, entsprechende Abwehrmaß­nah­men vor den zu erwartenden Insek­te­nan­grif­fen zu ergreifen. Und habe auch davon gehört, dass vor allem Men­schen mit süßem Blut Opfer dieser grausamen Tierchen sind. Weshalb ich Monate vorm Urlaub keine Schoko­lade mehr gegessen habe, keine Marme­lade, keinen Zucker, keine Bon­bons. Ich bin sogar so weit gegan­gen, mor­gens zum Früh­stück zwei Rollmöpse hin­unter zu wür­gen, gefolgt von Oliven und Tomaten mit Brot zur Mit­tagszeit sowie salzi­gen Brezeln am Abend. Das Ergeb­nis war nieder­schmetternd: Die Haut meiner Frau glich am Urlaub­sende einem Samt­tep­pich, jene von mir ähnelte dem eines beack­erten Kartoffelfelds.

Ich habe übri­gens von Stu­dien über men­schliche Düfte gele­sen. Die Wis­senschaftler fer­tigten eine große Röhre an, die die Form eines Y besaß – einen Ein­gang und zwei Aus­gänge. Der Aus­gang wurde mit men­schlichen Kör­perg­erüchen beduftet – von Frei­willi­gen, die sich zuvor in einen Kun­st­stoff­schlaf­sack gehüllt hat­ten. Dieser Kunststoff-Duft kam den Mücken an Aus­gang A ent­ge­gen. Am anderen Aus­gang (B) warteten ganz „nor­male“ Men­schen auf ihre Hin­rich­tung durch die Mücken. Ohne speziellen Geruch. Das Ergeb­nis? Na ja, eigentlich gar keines. Die Mücken stürzten sich nicht nach einem bes­timmten Schema auf ihre Opfer, son­dern stachen ein­mal an Aus­gang A zu, ein anderes Mal an Aus­gang B. Je nach­dem, ob ihnen die Test­per­son zusagte oder nicht. Ich bin mir sicher: Wäre ich bei diesem Ver­such dabei gewe­sen, hätte ich den gesamten Schwarm ange­zo­gen. Egal ob mit oder ohne Kunststoff-Duft.

Inzwis­chen machen sich selt­same Gedanken in mir breit. Hätte ich vor 30 Jahren bei der Wahl der Ehe­frau nicht genauer hin­riechen müssen? Hätte ich nicht Pro­beliegen sollen mit ihr in einem Zim­mer voller Stech­mücken, bevor ich ihr das Jawort gab? Wie angenehm wäre heute ein Som­merurlaub für mich mit einer Frau, die noch viel inten­si­vere Duft­noten abgibt als ich und damit den Mücken sig­nal­isiert: „Kommt lieber alle zu mir und lasst meinen Mann friedlich schlafen.“

Zeiten
ändern sich

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So kann’s gehen im Leben. Da fühlte man sich in der Beziehung mit der eige­nen Frau über Jahre hin­weg als das starke Geschlecht, nicht unbe­d­ingt als Macho, aber doch als der Mann im Haus. Als jener, der auch die Num­mer eins ist, wenn es darum geht, schwere Bier– und Min­er­al­wasserkästen in den Keller zu schlep­pen. Regale zusam­men zu schrauben. Oder schwere Hanteln zu stem­men im Fit­nessstu­dio. Beim gemein­samen Joggen am Woch­enende war man leicht­füßig und stets einen Schritt schneller als die Part­nerin. Daran erin­nere ich mich.

Nun stellen sich mir aber nach größeren Laufver­anstal­tun­gen die Fra­gen: Leide ich an Erin­nerungsver­lust? An falscher Wahrnehmung? Gar an Para­noia? Denn nicht nur meine Frau schüt­telt vehe­ment den Kopf, wenn ich ihr von meinem Blick zurück erzähle. Auch meine Fre­unde kön­nen sich nur schwer an eine läuferische Dom­i­nanz mein­er­seits erin­nern und behaupten: „Deine Frau ist dir schon immer davon­ge­laufen – also beim Joggen.“

Seit ger­aumer Zeit habe ich viel Zeit, mir über solche Dinge Gedanken zu machen. Vor allem an den Tagen, wenn mal wieder eine große Laufver­anstal­tung ansteht. Die Zeit vor einem Event läuft bei uns stets nach dem gle­ichen Muster ab: Wir nehmen uns beide fest vor, mitzu­machen und uns vorzu­bere­iten. Bei mir kommt aber immer etwas dazwis­chen – viel Arbeit, Nack­en­verspan­nung, Hal­skratzen, Schmerzen im Hüft­bere­ich. Ich ver­schiebe die Train­ing­sein­heit regelmäßig auf den näch­sten Tag. Meine Frau nicht.

Und mein näch­ster Train­ingstag kommt nicht – bis zum Tag der Entschei­dung. Dann weiß ich: Ich werde nicht teil­nehmen kön­nen. Zumin­d­est nicht als aktiver Läufer. Ich fühle mich inzwis­chen den­noch als wichtiger Teil eines solchen Events.

Ich habe eine neue Auf­gabe gefun­den bei 10– oder 20-Kilometerläufen: Ich assistiere meiner Frau. Ich betreue sie. Ich hole im Vor­feld eines Laufs ihre Unter­la­gen ab und stolziere damit gut sicht­bar durch die Innen­stadt. Ich reiche ihr auf der Lauf­strecke Wasser­flasche und Trauben­zucker. Ich stoppe ihre Zwis­chen­zeiten und rechne aus, ob sie in der näch­sten Runde das Tempo steigern oder drosseln soll.

Schließlich hat man Erfahrung als ehe­ma­liger Dauer­läufer, der stets einen Schritt schneller gewe­sen ist als andere.

Wenn Geschenke
zur Hürde werden

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Natür­lich, liebe Leserin­nen und Leser. Für Sie ist Wei­h­nachten längst vor­bei. Schnee von gestern, sozusagen. Für mich nicht. Dieses Fest der Feste hallt noch immer nach. Im nun so ersehn­ten Früh­jahr sogar beson­ders laut und deutlich.

Die Sache ist die: Wenn es um Geschenke geht, wie an Wei­h­nachten, kann es sein, dass nicht alles glatt läuft. Dass sich plöt­zlich hohe Hür­den vor einem auf­tun. So gehörte auch ich in früheren Jahren schon zur Flut jener Leute, die nach den Feierta­gen die Kaufhäuser über­schwemmt. Men­schen mit Din­gen in der Hand, die unterm Christ­baum lagen, die sie aber partout nicht haben wollen. Vasen von Tan­ten, die nicht passen zum Ambi­ente der eige­nen Woh­nung. Alte Münzen vom Patenonkel, der nicht wusste, dass man kein sen­ti­men­taler Samm­ler, son­dern eher Prag­matiker ist. Eine Krawatte von der Mut­ter, die sie lieber ihrem Mann geschenkt hätte. Ich trage so gut wie nie Krawatten.

Zumin­d­est inner­halb der Fam­i­lie woll­ten wir zuletzt nicht in diese Umtauschfalle tap­pen – und hängten eine Liste aus, in die man Wün­sche ein­tra­gen durfte. Mir war aber nicht nach Materiellem, und selbst nach langem Über­legen fiel mir nichts Geeignetes  ein. Ich wollte mein Feld in der Liste ander­er­seits nicht leer lassen und trug schließlich die Worte Glück und Gesund­heit ein. Für einen Mann in fort­geschrit­tenem Alter gar nicht so unpassend, dachte ich – und habe nun, im Früh­jahr, die Bescherung.

Vor weni­gen Tagen löste ich meinen Wei­h­nachts­geschenkgutschein ein: für einen sportlichen Check up. Ich musste, am gesamten Kör­per verk­a­belt und ange­s­pornt von einem Diplom­sportlehrer, auf einem Lauf­band um mein Leben ren­nen. So kam es mir zumin­d­est vor. Alles wurde auf einem Com­puter aufgeze­ich­net: die Geschwindigkeit, mein Fettstof­fwech­sel, die Herzfre­quenz, Cho­les­ter­in­werte, Belas­tungs­fähigkeit, Lak­tater­hol­ung. Vielle­icht sogar meine Gedanken, ach! Natür­lich gab mir der Sportlehrer den Rat mit auf den Weg, mich kün­ftig mehr zu bewe­gen. Zum Wohle meiner Gesund­heit, die ich mir ja zu Wei­h­nachten gewün­scht hatte.

Das Ergeb­nis dieser Plack­erei auf dem Lauf­band ist mir dieser Tage in Form eines zweiten Gutscheins über­re­icht wor­den: Ich darf mich dem­nächst bei einem von meiner Frau aus­ge­suchten Lauftr­eff melden. Hätte ich vielle­icht doch lieber das Wort Krawatte auf der Wun­schliste ver­merken sollen?

Alle Jahre wieder: 
der Weihnachtsbaumkauf

kolumne


Jedes Jahr zu Weihnachten wird mir deutlich vor Augen geführt, dass vieles im Leben reine Ansichtssache ist. Es geht um unseren Weihnachtsbaum. Nun ist es so, dass wir schon lange nicht mehr am knallhart geführten Wettkampf teilnehmen, bei den zahlreichen Weihnachtsbaumhändlern am Stadtrand den wunderschönsten, aber dennoch bezahlbaren Baum zu ergattern. Am besten eine Nordmanntanne, die nicht stündlich ihre Nadeln fallen lässt. Ich bin über diesen Rückzug sehr froh. Denn obgleich ich naturgemäß jedes Jahr einen anderen Baum mit nach Hause gebracht habe, war die Reaktion meiner Lieben stets die gleiche: „Oh Gott, ist das eine Krücke! Den hast du sicherlich geschenkt bekommen, weil es der letzte war.“

Meine Lieben können sehr direkt sein. Und ungerecht. Nun gut, immer wenn ich am Stand des Weihnachtsbaumhändlers vorbeigefahren bin, hatte ich es eilig, gleichzeitig aber auch die Gewissheit: Es sind noch genügend Bäume vorhanden. Schlage ich eben morgen zu. Ich weiß  heute noch nicht, was sich jährlich in den Nächten zum 23. Dezember abgespielt hat. Jedenfalls konnte man am Tag vor Heilig Abend plötzlich nicht mehr wirklich von einer Auswahl sprechen. Erst an diesem Tag aber hatte ich es ausnahmsweise mal nicht eilig und steuerte mein Auto auf den fast leeren Platz des Weihnachtsbaumhändlers. Ich musste auch nicht warten, sondern wurde sofort bedient. Der letzte Baum des Händlers war schnell im Auto verstaut – und mir die Schelte meiner Lieben sicher.

Wie gesagt, diese Zeiten sind vorbei. Seit geraumer Zeit schlagen wir unseren Weihnachtsbaum im Wald einer unserer Nachbarn selbst. Er hat uns die Erlaubnis gegeben. Wir finden das schön und authentisch, vor allem dann, wenn der Schnee meterhoch liegt und wir mit unserem Schlitten am 23. Dezember in Richtung Waldgebiet stapfen. Schon an diesem Tag ist uns warm ums Herz. Und ich gehe endlich völlig entspannt in dieses so bedeutsame Fest. Denn der Wald unseres Nachbarn besteht ausschließlich aus jenen Krücken, wie ich sie die Jahre zuvor vom Weihnachtsbaumhändler mitgebracht habe. Und jedes Jahr, wenn sich Frau oder Sohn für ein Exemplar entschieden haben und es anschließend auf unserem Schlitten landet, blicken sie mit verklärtem Blick darauf und meinen: „Ein wunderschöner Baum, gell!“

Ach ja: Unserem Nachbarn, dem Armen, ist dieses Erlebnis übrigens nicht vergönnt. Seine Frau hat es ihm vor Jahren verboten, mit den Worten: „Ich möchte einen schönen Baum. Und sei bloß rechtzeitig dran beim Weihnachtsbaumverkäufer, damit du noch eine gute Auswahl hast!“



Nie wieder
Fassonschnitt

Kolumne Ausgabe 2/2012

 

 

 

Viele Dinge im Leben ändern sich. Nicht immer waren sie früher besser. Nehmen wir den Besuch beim Frisör. Wenn ich heute daran denke, wie das früher war mit dem Haare schneiden, würden sich am liebsten bei mir die Nackenhaare aufstellen – wenn ich denn dort noch so lange Haare besäße, dass sie sich aufstellen könnten.

Also, mein älterer Bruder und ich mussten als Kinder stets samstags zum Frisör gehen – mit meinem Vater im Schlepptau. Dass mein Bruder meist vehement den Kopf schüttelte, flehentlich versicherte, alle anderen in seiner Klasse trügen viel längere Haare als er, dass er für seinen ständigen Stoppelschnitt schon Schmähung über sich habe ergehen lassen müssen und dass er gar keine Zeit, sondern ein Fußballspiel im örtlichen Verein zu bestreiten habe, konterte mein Vater mit: „Keine Widerrede. Wir gehen am Vormittag, dein Fußballspiel ist erst am Nachmittag.“

Ich schwieg und fügte mich meinem Schicksal. Ich schwieg auch im Frisörsalon, der den Namen Bösinger trug. Erst heute fällt mir übrigens die viel sagende Verbindung zwischen Namen und Institution auf. Natürlich hieß auch der Chef dort Bösinger und war in Doppelfunktion zudem der Vorsitzende des örtlichen Fußballvereins. Als er meinen Vater sah, begrüßte er ihn mit den Worten: „Ist ja wieder mal nötig. Nicht dass die Haare beim Fußballspielen in die Augen hängen.“

„Einmal Fassonschnitt. Ordentlich was weg“, forderte mein Vater, und mein Bruder bäumte sich ein weiteres Mal auf: „Einen Rundschnitt. Bitte, Papa!“ Bei dieser Variante hätten etwas mehr Haare auf unseren Köpfen überlebt. Aber Herr Bösinger und mein Vater waren sich einig: „Fassonschnitt.“ Herr Bösinger begann mit der Schere bedrohlich zu klappern. Mein Bruder und ich verließen diesen Ort des Grauens wie frisch geschorene Schafe.

Heute genieße ich es, der Frisöse genaue Anweisungen zu geben, was mit meinen Haaren zu tun sei. Heute gehört mein Kopf mir ganz alleine. Weshalb ich es mag, hin und wieder intensiv in die Kopfhaut hinein zu spüren, mir Informationen zu besorgen über die unterschiedliche Beschaffenheit von Haaren und mich mit meiner Frisöse in allen Einzelheiten über die Eigenart speziell meiner kastanienbraunen Haaren zu unterhalten.

Da stört es mich nicht weiter, dass nach dem Besuch der Frisöse die Länge meines Haarschnitts exakt jener vor über 40 Jahren entspricht. Weil mir aufgrund intensiver Geheimratsecken schon lange nichts mehr ins Auge hängen kann. Weil oben auf dem Kopf der Haarausfall seit Monaten nicht mehr zu stoppen ist. Und weil an den Seiten und im Nacken die Haare zuvor brechen, ehe sie sich übers Ohr schlängeln könnten.

Einen Fassonschnitt würde ich dennoch niemals bei meiner Frisöse in Auftrag geben.

Freddy Schissler


Kicken mit

über 50?

Kicken mit über 50?

 



Mit dem Alter, hat mir unlängst ein Bekannter Mut zugesprochen, komme die Weisheit. Gut, auch kleine Wehwehchen nähmen zu, meinte er. Na ja, und so leistungsfähig wie früher sei man mit fortschreitender Lebensdauer eben auch nicht mehr. Aber wie gesagt: Die Weisheit, die wachse von Tag zu Tag.

Mit diesen Erkenntnissen und einem Packen alter Fotos saß ich unlängst am Abend am Schreibtisch und grübelte. Wieder einmal. Soll ich es wagen oder eher doch nicht? Diese Frage stelle ich mir nun schon seit einem dreiviertel Jahr, ohne lange Zeit eine wirklich klare Antwort gefunden zu haben.

Also, die Sache ist die. Vor einem dreiviertel Jahr fragte mich ein Freund, ob ich nicht Lust hätte, etwas für meine Fitness zu tun und mir ein bisschen Spaß zu gönnen im grauen Arbeitsalltag. Er hätte da eine lustige Truppe beisammen, die sich einmal in der Woche am Abend trifft: zum Fußballspielen. Locker leicht, schob er sofort hinterher, ohne jeglichen Leistungsdruck. Kicken just for fun. Man suche Techniker, weniger die Kämpfer und Schleifer.

Meine Augen leuchteten, und wenn Sie diesen Packen alter Fotos sehen würden, dann wüssten sie weshalb: Sie dokumentieren mein Leben in jungen Jahren – mal im dunklen Fußballdress, mal im hellen. Mal mit der Nummer fünf auf dem Rücken, mal mit der Zehn. Für die Fußball-Laien unter Ihnen: Das sind jene Positionen in der Welt der populärsten Sportart, auf die man nicht unbedingt die Kämpfer und Schleifer stellt.

Nun ist das so bei mir, dass ich nicht mehr der Allerjüngste bin. Ü50, wenn Sie’s genau wissen wollen. Und da ist die Frage einfach: Rennt man in diesem Alter nochmals einem Ball hinterher? Was sagt das Herz dazu? Was die Muskulatur? Was die Sehnen? Sollte die gut ausgeprägte Altersweisheit nicht „Nein“ dazu sagen? Andererseits ist es nie so gewesen, dass ich mich in einem Fußballspiel überanstrengt hätte. Sehr zum Leidwesen meiner Trainer.

So ein Winter-Fußballabend in der Halle kann etwas wirklich Tolles sein. Ein bisschen Sport treiben, ein bisschen Plaudern mit Gleichaltrigen, danach ein bisschen in der Kneipe sitzen und ein Bierchen trinken. Ich habe mir vor wenigen Tagen neue Turnschuhe für die Halle gekauft, in der festen Absicht, demnächst meinen Freund anzurufen.

Ich werde es nicht tun. Ich habe auch wieder den Packen alter Fotos in die Schublade zurückgelegt. Ein anderer guter Freund hat unlängst die Einladung dieser Fußballtruppe angenommen. Er wird dieser Tage an der gerissenen Achillessehne operiert.

Freddy Schissler

Märklin: 
Sehnsucht nach Freiheit

Kolumne



Man kann sich auf verschiedene Art dem Weihnachtsfest nähern. Bei uns zu Hause geht das meist so: Mein Sohn ist plötzlich ganz nett zu mir, bringt mir unaufgefordert die Pantoffeln, um sich dann mit süßer Stimme zu erkundigen: „Könnten wir zusammen die Märklin-Eisenbahn aufbauen?

Märklin. Ein Wort mit vielerlei Bedeutung. Zum einen ist das eine Modell-Eisenbahn, gewiss. Aber eine Märklin bedeutet noch viel mehr für Vater und Sohn. Die Sehnsucht nach Ferne und Freiheit dampft da auf zwei mitunter rostigen Schienen, der Wunsch, allen Alltagsärger zurück zu lassen am Bahnhof wie zwei schwere Koffer, die man nicht mehr tragen will.

Mein Sohn fühlt inzwischen wie ich. Auch ihm geht am Ende eines Jahres die Luft aus. Er will im Dezember zusammen mit seinem Vater in die Ferne fahren. Nach Amerika. Oder Spanien. Auch Hannover wäre recht. Hauptsache weg. Selbst nach Mecklenburg-Vorpommern würden wir reisen. Wir beschließen auch in diesem Jahr, zwei Wochen vor Heilig Abend: Ab jetzt ist Märklin-Zeit.

Damit fängt das Drama an. In welches Eck auf dem Speicher haben wir letztes Jahr die Schienen verstaut? In welcher der 15 Kisten, die dort oben stehen? Wo haben wir den Trafo verpackt, und wenn er endlich gefunden ist, lautet die weitere Frage: Weshalb fehlt am roten Kabel der kleine Stecker samt Gehäuse? Wir brauchen drei Tage, bis wir alle Teile gefunden haben – Schienen, Weichen, Trafo, Tunells, Plastikbäume, Loks, Anhänger. Aber uns ist klar: diese Märklin-Eisenbahn wird nicht laufen. Weil irgendjemand vergessen hat, einen kleinen Stecker mit Gehäuse für das rote Kabel am Transformator zu kaufen. Für meinen Sohn steht fest, wer dieser irgendjemand ist. Er spricht einen Tag lang nichts mehr mit mir. Drei weitere Tage dauert es, bis der Ladenbesitzer, bei dem wir das fehlende Teil bestellt haben, uns mitteilt, dass die Lieferung angekommen sei.

Wir machen uns ans Werk, lassen die ersten Schienen ineinander gleiten. Aber: Der Trafo streikt. Also wieder ins Fachgeschäft. „Zwei Tage“, erklärt man uns dort, „werden schon nötig sein, um das alte Ding zu reparieren.“

Mein Sohn und ich legen einstweilen unsere Sehnsucht nach der Ferne zurück in die Schublade. Nach zwei Tagen kramen wir sie wieder hervor und bauen eine anspruchsvolle Strecke auf, mit Außen- und Innenkreis, mit Nebenstrecke und Abstellgleis. Das dauert, aber es lohnt sich. Wenn die Lokomotive funktioniert. Bei unserer, ein altes, aber sehr robustes Schweizer Modell, verschwindet manchmal der Gummi am Antriebsrad. Auch in diesem Jahr. Zum Glück habe ich einen Kollegen mit technischem Geschick. Er hilft uns, benötigt aber drei Tage, um die Lok fahrtüchtig zu machen. Danach vernichtet die Mutter meines Sohnes beim täglichen Staubsaugen mit einem versehentlichen Tritt Bahnhofsgaststätte, Wärterhäuschen und Bauernhof samt Kühe und Katzen.

Am 23. Dezember, hoffen mein Sohn und ich, können wir endlich unsere Sehnsucht erfüllen. Wir haben uns für Mecklenburg-Vorpommern entschieden. Weil wir ja einen Tag später wieder zu Hause sein müssen. Am besinnlichen Heilig Abend.
                                                                                         Freddy Schissler



Zugegeben: Ich bin

ein Wetterjunkie

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Es gibt Themen im Leben, die lassen sich durchkauen wie ein geschmeidiger Kaugummi. Stundenlang und bei jeder Gelegenheit. Dazu gehört das Wetter. Am Morgen beim Bäcker kann man sich darüber unterhalten, am Nachmittag im Wartezimmer eines Arztes, wo man sich nach zweieinhalb Stunden die Frage stellt, weshalb eigentlich zuvor ein Termin ausgemacht worden war. An der Bushaltestelle ist das Wetter mit anderen Wartenden ein Dauerthema oder an der Tankstelle, was speziell dort den Vorteil hat, dass man durch die Unterhaltung nicht dauernd auf die Zahlen auf der Zapfsäule achtet, die sich gerade in diesen Tagen in unvorstellbar rasender Geschwindigkeit nach oben schrauben.

     Ich gebe es frank und frei zu, ich persönlich kann mir ein Leben ohne dieses Topthema nicht mehr vorstellen. Was ich auch gestehe: Mein erster Blick am Morgen bei der Zeitungslektüre fällt auf die Seite mit den Wettprognosen. Andere blättern von hinten in ihrer Tageszeitung, landen zunächst bei den Todesanzeigen oder den Sonderangeboten irgendeines Lebensmittelmarktes. Ich schaue als erstes beim Wetter nach und könnte die Zahlen und Symbole, welch ein Zauber, stundenlang auf mich wirken lassen.

    Zeitweise etwas wolkig, gelegentlich sonnig, im Süden breiten sich Regenwolken aus; es kommt ein Hoch, dann wieder ein Tief namens Hubert oder Anna-Lena (vermutlich ein Doppeltief), später eine relative Feuchte, ergiebiger Dauerregen oder stark aufkommender Südwestwind: Mein Gott, wie ich diese Sprache liebe!

    Ja, ich bin ein Wetterjunkie, abhängig von all diesen Spekulationen, Prognosen und forschen Behauptungen.

   Seit unsere Nachbarn Besitzer eines iPhones sind, hat meine Wetterabhängigkeit noch mehr zugenommen. Es ist ihnen möglich, in jeder Lebenslage nach dem aktuellen Wetterstand zu schauen. Ein Griff in die Hosentasche, Wetterseite auf dem iPhone aktiviert, und schon können sie mir mitteilen, wie das Wetter morgen Früh um 7.42 Uhr wird, heute Abend um 19.38 Uhr – oder wie es gerade im Augenblick ist.

    Ach, ist das herrlich! Unlängst sind wir mit ihnen am frühen Nachmittag auf der (überdachten) Terrasse gesessen, und ich hatte mitten im Gespräch über den zurückliegenden Urlaub plötzlich das Bedürfnis, die Wetterlage für den späten Nachmittag dieses Tages zu erfahren. Der Nachbarssohn ließ sich nicht zweimal bitten, ließ seine Finger über die Tastatur seines iPhones gleiten und verkündete stolz: „Temperatursturz von 5 Grad Celsius und Dauerregen. Es hat jetzt schon angefangen zu regnen.“
    Ich lächelte zufrieden. Dann ging mein Blick durch die verglaste Überdachung Richtung stahlblauem Himmel. „Muss wohl eine Sinnestäuschung sein“, schoss es mir durch den Kopf, und ich war sehr froh unter dem Dach der Terrasse zu sitzen, um nicht nass zu werden.

                                                                                   Freddy Schissler



Wie  du  mir,
so ich dir!

 

aktiv im Leben Ausgabe 4/2012 Kolumne

Foto: birgitH/pixelio.de

 

 

 

 

Das muss man sich mal vorstellen: Bei uns zu Hause hängt der Haussegen schief – und das wegen eines kleinen Dings von nur 17 Zentimetern Länge in zusammen geklapptem Zustand.

    Zur Erklärung: Wir besitzen noch einen jener uralten Nussknacker, die lediglich aus zwei silbernen Stangen bestehen. An einem Ende sind sie zusammen geschraubt. Die anderen beiden Seiten muss man kräftig gegeneinander drücken, dann knackt man die Nuss – oder sie zersplittert in tausend Teile.

Das Blöde daran: Diese zersplitterten Teile liegen danach auf dem Fußboden und unter der Couch. Oder auf derselben, sehr gerne auch in jenen Ritzen, wo Rückenlehne und Sitzfläche zusammen stoßen. Nur wenige Nussteile rettet man nach dem lauten „Krrrrr“ zum anschließenden Verzehr in den Handflächen.

     Ich freilich habe zuletzt eine sehr gute Ausbeute gehabt. Sofort stürzte sich meine Familie darauf und aß mir aus der Hand (Solch einen Tag sollte man sich übrigens rot anstreichen im Kalender!). Allerdings: Beide, Sohn und Frau, mussten am nächsten Tag zum Zahnarzt und neue Plomben einsetzen lassen.

Meinen Einwurf, dass man sich bei so einem alten Ding von Nussknacker eben nie total sicher sein könne, ob nicht nach dem Knacken ein winziges Stückchen Schale zwischen die Nussteile gekommen ist, konterte die Ehefrau mit einem einzigen Wort: „Das gibt Rache, mein Lieber!“

     Irgendwie befällt mich nun die Angst vor den nächsten Erzeugnissen ihrer, zugeben, sehr beeindruckenden Backkunst: Ihr Kirschkuchen ist wirklich vorzüglich. Wenn er keine Kerne versteckt hält.

Freddy Schissler

Vor der Prüfung

 

Das Vorbereiten auf eine so genannte Lernzielkontrolle meines Sohnes, wie das seine Lehrerin auszudrücken pflegte, hatte bei mir Spuren hinterlassen.

Lernzielkontrolle: Wie das schon klingt. Gefährlich. Furcht erregend. Bedrohlich. Zu meiner Schulzeit hieß das Klassenarbeit oder schriftlicher Test. Obwohl in dem Wort „Arbeit“ auch jede Menge an Unannehmlichkeit steckt, war damals für Lehrer, Schüler und Eltern klar: 45-minütige Konzentration des Kindes (und nur des Kindes) oder ebenso langer Blick aufs Heft des Nebenmanns – danach Aufatmen und Spielen gehen auf den Pausenhof.

Bei einer Lernzielkontrolle, dachte ich zumindest, liegt die Sache sicherlich anders. Hier wird generell und alles kontrolliert. Null Chance auf Augenkontakt mit dem Konkurrenten nebenan. Ich stellte mir das Schreiben einer Lernzielkontrolle so vor: Die Kinder müssen auf dem Weg in einen mit Überwachungs-Kameras ausgestatteten und verwanzten Schreibraum einen Kontroll-Bogen passieren – ähnlich wie jenem in einem Flughafen. Piepst es beim Durchgehen, heißt es Ablegen: Spickzettel, beschriebenes Lineal, präpariertes Brillenetui. Das Kind wird anschließend per Datenübermittlung sofort gemeldet. Beim Schul- oder Jugendamt. Womöglich auch bei der Auswanderungsbehörde.

Fällt dann im sterilen Schreibraum der Startschuss zur Lernzielkontrolle, herrscht dort Grabesstille und es regiert die Lehrerin mit nach hinten gebundenem Haarzopf, Nickelbrille, Schlagstock und Handschellen am Gürtel.

Wer zu wenige Aufgaben der Lernzielkontrolle lösen kann und nicht ans Lernziel ankommt, wird in einen anderen Raum geschleust und anschließend stundenlang verhört, weshalb er versagt hat. Womöglich stellen dort uniformierte Kontrolleure fest, dass die Eltern an allem schuld sind und kündigen umgehend eine Erziehungszielkontrolle an. Dann würde auch ich Besuch bekommen von der Frau mit Nickelbrille. Dann würde es auch mir an den Kragen gehen.

Nun, bevor Sie mich zu sehr bemitleiden: Der Besuch der Lehrer-Sprechstunde ein paar Tage später hat mein Leben wieder ins Lot gebracht und mir die Gewissheit gegeben: Ein sachliches Gespräch zwischen Eltern und Lehrer wirkt noch immer Wunder. Immerhin habe ich auf diesem Weg erfahren, dass die Lehrerin meines Sohnes gar keine Brillenträgerin und eigentlich sehr nett ist. Dass eine Lernzielkontrolle mitunter nur ein paar Minuten dauert und lediglich das abgefragt wird, was die Schüler zuvor im Unterricht durchgenommen haben.

Ach ja, und ein Klassenzimmer mit Überwachungskameras und Kontroll-Bogen konnte ich bei meinem Besuch in der Schule auch nirgends entdecken.

Freddy Schissler

 

 

Zufrieden mit
dem Hosenkauf?

Kolumne aktiv im Leben Ausgabe 2/2012

 

 

Ich weiß nicht, ob man mich als verträumten Nostalgiker bezeichnen kann. Aber es ist einfach so, dass ich mir bei der Neuanschaffung einer Hose äußerst schwer tue. Ich habe mein Leben lang Edwin-Jeans getragen, Modell Newton Slim. Die sitzt an meinem Körper am besten. Ich habe lange Beine, dafür aber einen geschrumpften Oberkörper. Vielleicht haben sie bei der Firma Edwin eigens für den Typ von Mensch wie ich es bin, dieses Modell entwickelt. Ich habe mich all die Jahre in diesen Jeans wohl gefühlt.

Seit geraumer Zeit gibt es hierzulande keine Edwin-Jeans mehr, kein Modell Newton Slim. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, als ich das erfuhr. Seither gleicht mein Hosenkauf einem Drama. Nicht selten verzweifeln an mir die Verkäuferinnen, beraten mich stundenlang, ohne dass ich am Ende etwas Passendes finde. Ich weiß selbst, dass es mit mir als Jeans-Kunden nicht leicht ist, und am Ende meiner Einkaufs- und Beratungstour überfällt mich regelmäßig ein Gefühl des Mitleids mit der betreffenden Verkäuferin.

Das hatte zuletzt fatale Folgen für mich in einem Jeans-Laden in München (Ich fahre seit einiger Zeit in deutsche Großstädte zum Einkaufen einer Jeans. Das hat zwei Vorteile: Zum einen ist dort die Auswahl bedeutend größer als in meiner Heimatstadt. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ich der betreffenden Verkäuferin jemals wieder über den Weg laufe). Ich weiß nicht mehr genau, ob es zwei oder drei Stunden waren, die ich an diesem Nachmittag darin verbracht hatte. Jedenfalls kam die nette, geduldige Dame mit der 24. Jeans aus dem Lager und beteuerte: „Das, mein lieber Herr, ist exakt das gleiche Modell wie eine Edwin-Jeans, Modell Newton Slim. Bitte glauben Sie mir das!“
Das flehentliche Zittern in ihrer Stimme fiel auch anderen Kunden auf, die sofort zu mir herüber starrten. „Ich werde auch diese probieren“, versprach ich, schnappte das von ihr gebrachte Modell und ging in eine Umkleidekabine. Nach wenigen Minuten stieß ich die Schwingtür auf, schlenderte zum nächst gelegenen Spiegel und verkündete die Sensation: „Diese Hose passt!“

Die Verkäuferin blickte mich zunächst mit großen Augen an, dann färbten sich ihre Backen leicht rötlich und schließlich kullerten ihr ein paar Tränen über die Backen. Tränen der Freude. „Danke, mein Herr, danke“, entfuhr es ihr. „Ich wusste, dass alles gut wird.“ Dann schlang sie die Arme um mich. Ich zahlte daraufhin nicht nur den Preis dieser Hose, sondern drückte ihr auch ein nicht geringes Trinkgeld in die Hand.

Erst zu Hause beim nochmaligen Anprobieren stellte ich fest, dass die Jeans ein klein wenig zu lang war und mit einem für meinen Geschmack zu großen Knick auf den Schuhen aufsaß. Die Tiefe der Seitentaschen entsprach nicht einmal zur Hälfte jener seiner Edwin-Jeans, Modell Newton-Slim. Und der Übergang zwischen Gesäßunterteil und dem oberen Teil der Oberschenkelrückseite fiel deutlich zu luftig aus. Es war für mich unmöglich, mit dieser Hose am Bein den Wirren des Arbeitsalltags zu begegnen.
Ich habe sie kein einziges Mal mehr angezogen.

Freddy Schissler

Wie Fernsehschauen ohne Farbe:
Klassentreffen nach 30 Jahren

 

Wissen Sie, wie man merkt, dass man älter wird? Wenn Sie zu einem Klassentreffen eingeladen werden und sich nur noch dunkel an Namen ihrer ehemaligen Kollegen erinnern können. Geschweige denn an die Gesichter. Ich bekam unlängst eine entsprechende Einladung – und bin nervös geworden. Das ist normal bei mir, wenn Prüfungen anstehen. Schon in der Schule war das so: Wurden Mathe-, Französisch- oder Englischarbeiten geschrieben, brachte ich kaum einen Bissen hinunter. In einer Woche mit vier schriftlichen Tests konnte es sein, dass ich bis zu drei Kilo verlor. Gesund ist das nicht. Ein Klassentreffen ist auch nicht gesund. Das ist eine einzige große Prüfung.

Man steuert das Schulgebäude an und steht plötzlich inmitten einer Gruppe alter Menschen mit grauen Haaren. Oder gar keinen mehr. Man lächelt unbeholfen, obwohl man am liebsten weinen würde. Was nur, geht einem durch den Kopf, machen die Jahre mit den Menschen? Aber es bleibt keine Zeit für die Suche nach tiefsinnigen Antworten. Nun heißt es, die Prüfung zu bestehen. Immerhin habe ich zwei Wochen zuvor im Rahmen eines intensiven Studiums Namen auswendig gelernt. Ob ich im Ernstfall die auch richtig zuordnen kann?

Bei einem Klassentreffen lauern überall Peinlichkeiten. Was, wenn man „Hallo Eugen“ sagt, aber Klaus-Dieter die Hand schüttelt? Womöglich konnten sich die beiden damals schon nicht riechen. Man darf sich an so einem Tag keine Blöße geben. Immer lächeln, und wird man mit der Frage konfrontiert: „Na, wie geht’s dir denn so?“, darf man nicht ins Stottern geraten. Der Text, den man aufsagt, muss sitzen: „Oh, ich bin sehr zufrieden. Beruflich und privat, alles bestens. Doch! Und selbst?“

Selbst Fragen zu stellen, ist in jedem Fall zu empfehlen. Das ist wie beim Fußball. Wer offensiv spielt und sich in der Hälfte des Gegners aufhält, kann sich keine Gegentore einfangen. Aber merke: Wer fragt, muss Namen kennen. Bei den Männern ist das einfach. Da haben sich in aller Regel die Nachnamen nicht geändert. Bei den Frauen sieht das anders aus. Bei den meisten jedenfalls. Natürlich hat bis zum Klassentreffen die eine oder andere noch immer keinen abbekommen und somit ihren eigenen Nachnamen behalten. Aber das ist eine Minderheit. Nun gibt es auch jene, die sich schon damals, vor über 30 Jahren, nichts haben sagen lassen von ihren männlichen Schulkameraden. Gut möglich also, dass die eine oder andere verheiratet ist und dennoch den eigenen Nachnamen trägt. So wie ihr Ehemann – der Arme.

Klassentreffen nach 30 Jahren. Das ist wie Fernsehschauen ohne Farbe, Schreibmaschine schreiben auf einer Olympia oder Musik hören unplugged. Die Rückkehr zum Ursprung, verbunden mit einem Bündel an Namen, die man sich zwei Wochen lang eingehämmert hat.

Und was passiert am Prüfungstag? Man wird angesprochen mit den Worten: „Hallo Alfred Schüssel, was machst du denn inzwischen?“

 

                                                                             Freddy Schissler

MITGEHÖRT: 
Das Leben der Anderen

 

 

aktiv im leben Kolumne

 

Zeichnung: Dr. Stefan Raab

 

 

 

Ich war unlängst Kunde der Deutschen Bahn, unterwegs von Kempten nach Stuttgart. Zugfahren ist schön. Man kann während der Fahrt essen, wann man will; man kann trinken, wann man will (auch Alkohol); man kann schlafen, wann man will. Und es gibt noch einen Vorteil gegenüber dem Auto: Man kann ins Leben anderer Menschen blicken. Zum Beispiel in jenes eines Mannes um die 50, der mir schräg gegenüber saß. Wenige Kilometer nach Kempten meldete sich sein Handy – nach kurzer Zeit einer angeregten Unterhaltung stand seine Stirn unter Schweiß. Auszüge des Gesprächs:

    Schwitzender Mann: „Was??? Die haben per Mail unseren Termin abgesagt? Eine Katastrophe! Wir müssen den Auftrag bekommen, Frau Irrlinger. Sagen Sie das dem Peschke! Er soll den Deal klar machen.“ 

    Der Kopf des Mannes, vermutlich ein Unternehmer, war dunkelrot. Ich kombinierte: Frau Irrlinger war seine Sekretärin, Peschke der Abteilungsleiter. „Ich kann mich nicht selbst darum kümmern, weil ich am anderen Handy einen dringenden Anruf erwarte.“ Der erreichte ihn kurz nach dem nächsten Bahnhof.

   Ein nicht mehr so sehr schwitzender Mann: „Grüß dich, Schatzi. Schön, deine Stimme zu hören.“ Ein anderes Handy, eine andere Stimmlage – zunächst.

    Ich kombinierte: Seine Ehefrau war das nicht. Doch die Stimmung des Mannes verschlechterte sich. Schließlich bat er: „Liebes, lass‘ den Kopf nicht hängen. Ich kläre das mit meiner Frau.“

   Aha, Volltreffer!

   Dauertelefonierender Mann: „Schatzi, es wird alles gut.“ Das sah seine Freundin offensichtlich anders – und hängte ein. Kurze Zeit später klingelte wieder Handy eins, bei der Einfahrt in den Ulmer Bahnhof. Frau Irrlinger teilte ihm mit, dass Peschke eine Mail abgeschickt, aber noch keine Antwort erhalten hatte. „Bleiben Sie am Ball“, flehte er sie an, „davon hängt unsere Zukunft ab.“

Er legte auf.

    Kurz vor Göppingen meldete sich Handy Nummer zwei. Ich tippte auf die andere (weibliche) Zukunft. Diesmal lag ich falsch. Es war seine Frau. Er nannte sie zwar nicht Schatzi, aber auch ihr erzählte er etwas von „Kopf hoch“ und  „alles wird gut“.

   Wir hielten in Plochingen, kurz vor Stuttgart. Wieder klingelte Handy eins des Mannes schräg gegenüber von mir. Nach wenigen Sekunden sah ich ein Lächeln auf seinen Lippen. Ich freute mich mit ihm über den offenbar doch noch unter Dach und Fach gebrachten Auftrag. Seine Firma war offensichtlich gerettet.

   Wie es mit seiner privaten Zukunft bestellt sein würde? Ob er auch noch mit Schatzi glücklich wurde – oder mit seiner Frau? Ich weiß es nicht. Sein zweites Handy klingelte im Stuttgarter Hauptbahnhof, als er gerade ausstieg.

    Ich werde nichts mehr über seine private Zukunft erfahren können. Wie schade für mich. Vielleicht könnte man Stuttgart 21 ja so planen, dass sich die Fahrzeit zwischen Ulm und Stuttgart nicht verkürzt, sondern verlängert.

                                                                                       Freddy Schissler

Zeichnung: Dr. Stefan Raab
Zeichnung: Dr. Stefan Raab

 

Strapazen eines
Priority-Fluggastes

 

Unsere Familie liebt Ausflüge und Reisen. Steht eine sehr weite Reise auf dem Programm, nehmen wir gerne das Flugzeug. Da ist man schnellsten am Ziel. Und am billigsten, wenn man entsprechende Fluggesellschaften bucht. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit dem Thema Umweltschutz. Wir wollten aber nach Rom, einer Stadt mit über drei Millionen Einwohnern und vermutlich einer noch weitaus höheren Zahl an Autos, Motorrädern und Mopeds. Da müssen wir mit unserem Auto nicht auch noch den Papst und all die Römer verpesten, dachten wir – und entschlossen uns, bei einer Billigfluggesellschaft zu buchen.
   Damit fingen die Schwierigkeiten an. Alle Verantwortung einer Reiseplanung wird in meine Hände gelegt. Ich will das gar nicht, aber es ist nun mal so. Also war ich es, der nach 30 Minuten diffiziler Ausfüllarbeit plötzlich von meinem Computer-Bildschirm in rüdem Ton wissen wollte, ob er noch ganz bei Trost sei. Natürlich meinte ich nicht den Bildschirm, sondern das Kleingedruckte, mit dem er mich konfrontierte. Beim Aufgeben der Gepäckstücke wurde mir mitgeteilt, dass wir eigentlich ohne Gepäckstück reisen sollten. Jedenfalls wenn wir jenen Preis zahlen wollen, der mir zuvor zugesichert worden war.
   „Wir bleiben fünf Tage in Rom“, brüllte ich in den Bildschirm, „da muss ich doch zumindest fünf Unterhosen, vier Unterhemden und drei Paar Socken mitnehmen.“ Ich wolle auch nicht jeden Tag in derselben Hose, im selben Hemd, in denselben Schuhen herumlaufen, ereiferte ich mich und gab dem Bildschirm zu bedenken: „Und glaubst du etwa, ich wasche mich nie?!?“ Rasierapparat, Zahnbürste, Haarwachs, Föhn, Duschgel und Shampoo, flehte ich, seien doch das mindeste, was wir mit uns führen müssten!
   Der Bildschirm reagierte auf meine Empörung. Beim nächsten Klick eröffnete mir das weiterhin Kleingedruckte, dass ich selbstverständlich einen Koffer mit einem Maximalgewicht von 15 Kilogramm mitnehmen dürfe. Allerdings gegen Aufpreis. Aha.
Ich klickte weiter – und hatte den ursprünglichen Flugpreis kräftig erhöht. Nach weiteren zehn Minuten bekam ich den nächsten Wutanfall. „Bist du nun völlig durchgeknallt“, herrschte ich den armen Bildschirm an. Er teilte mir mit, dass ich gar keinen Sitzplatz zugewiesen bekam. „Soll ich mit meiner Familie bis nach Rom stehen?“ Ich schrie nicht mehr, ich wimmerte.
   Vielleicht, kam es mir in den Sinn, sollten wir doch lieber das Auto nehmen. Fährt bei uns immerhin umweltverträglich mit Gas. Und der Papst ist vermutlich selbst auf Reisen. Noch ehe ich auf die Taste „Abbrechen“ tippte, wurde mir erneut ein Angebot gemacht: Ich könne natürlich auch einen Sitzplatz buchen und wäre damit eine Art ausgewählter, bevorzugter Reisegast. Status: Priority! Ich setzte das Kreuzchen, gegen Aufpreis, ins entsprechende Feld.
   Als ich mich am Schluss dazu entschloss, mit Kreditkarte zu zahlen (eine andere Möglichkeit gab es gar nicht), wurde mir der Endpreis offeriert, der nochmals um rund zehn Prozent nach oben kletterte. Ich schwitzte und hatte keine Lust mehr auf Rom. Wir flogen dennoch. Und stiegen, trotz bevorzugter Behandlung, als vorletzte Familie in die Maschine. Wir durften zwar sitzen, aber nicht nebeneinander.
   Alle anderen vor uns in der Warteschlange hatten ebenfalls mit Priority gebucht.

                                                        Freddy Schissler

Auch Männer können kochen – na ja, nicht alle …

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Karikatur: Hefele/Foto: Raab

 

Manchmal, jedenfalls ist das bei uns Zuhause so, befällt mich das fürsorgliche Gefühl, kochen zu müssen. Natürlich für die gesamte Familie.

Vielleicht sollte ich gleich zu Beginn mit dem Geständnis herausrücken, dass sich dieses Gefühl nicht sehr oft in mir breit macht. Was zur Folge hat, dass meine Kochkünste, na ja, sagen wir so: an vielen Stellen ausbaufähig sind. Eigentlich an allen Stellen.

Ich erinnere mich genau, es war um diese Zeit herum vor einem Jahr. Im April beginnt die Spargelzeit. Ich liebe Spargelgerichte, und so hatte ich mich schnell entschieden: Heute zaubere ich ein Spargelgericht auf den Familientisch. Das ist ein Festtag, wenn Mann am Herd steht bei uns zu Hause, und weil man an Festtagen nicht aufs Geld schaut, griff ich nicht zum Spargel aus Griechenland oder sonstwoher, sondern zu jenem aus der Region. Der ist zwar teurer als der importierte Spargel, aber egal.

Ich war voller Elan, voller Esprit, voller Enthusiasmus. Da lässt sich doch ein Meisterkoch nicht von ein paar Euros bremsen.

Nun ja, wie soll ich es Ihnen erzählen? Die Soße Hollandaise schmeckte vorzüglich. Die Kartoffeln ebenso. Der Spargel, da bin ich mir noch heute sicher, hätte bestimmt ganz prima dazu gepasst. Aber es gab leider so gut wie keinen. Irgendwie glitt er mir bei der Zubereitung durch die Hände.

Mit einem Messer, nicht zu stumpf, war ich den Spargelstanden beim Schälen zu Leibe gerückt.

Ich hatte mich bemüht, wirklich!

Am Ende aber musste ich mich wundern, wie schnell diese Dinger an Dicke und Länge verloren bei meiner Art des Schälens, um sich schließlich in ein Nichts aufzulösen. Ich war bedient. Stundenlanges Schälen ohne Ertrag. Das ist wie ein Fußball-Finale, das man in der Verlängerung verliert. Nach dem Schlusspfiff steht man als dummer Tor da.

Für mich jedenfalls war die Kochsaison damit gelaufen. Den Hinweis meiner lieben Frau, dass fürs Vorbereiten solcher Gerichte ein super-praktischer Spargelschäler in der Küchenschublade liegen würde und ich sie nur danach hätte zu fragen brauchen, nahm ich mit verbissener Miene entgegen. Die Bemerkung, dass das Schälen mit solch einem Ding kinderleicht wäre, und dass man damit die äußere Haut des Spargels so entfernen könne, dass wirklich viel vom eigentlichen Spargel übrig bleibe, empfand ich als lästig.

Ihren Lobgesang auf die Soße und die Kartoffeln habe ich dann gar nicht mehr wahrgenommen.

Freddy Schissler

 


Von wegen Winterfreuden

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Karikatur: Steinmeyer, Foto: Raab

 

Hätte ich mir doch nur im entscheidenden Moment auf die Zunge gebissen. Aber nein, man musste ja prahlen. Den Mund voll nehmen. Der eigenen Familie vor Augen führen, welch toller Hecht man einst gewesen ist. Und dann dieses desaströse Ende. Bitter.

Das, ich schwöre es, wird mir kein zweites Mal passieren – hoffentlich.

Es begann am Frühstückstisch, als die ersten Schneeflocken vor unserem Küchenfenster tanzten. „Juhuu, der erste Schnee, wie herrlich!“, rief mein Sohn. Ich konnte, in Gedanken bereits beim Auftauen des Autotürschlosses und beim Freikratzen der vereisten Fensterscheiben, seine Begeisterung nicht teilen. Was, fragte ich ihn, soll daran so herrlich sein?

„Dann können wir endlich zum Skifahren gehen“, antwortete er.

„Skifahren ist langweilig“, entgegnete ich. „Was soll am ständigen Hoch- und Runterfahren denn so spannend sein?“

Nun wohnen wir zwar im Allgäu, dennoch bin ich kein Skifahrer. Also dass wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich komme ich auf zwei Skiern einen Hang hinunter. Dessen jedenfalls war ich mir ganz sicher, als ich mich beim Frühstück mit meinem Sohn in eine Grundsatzdiskussion über meine Skifahrfähigkeiten verwickeln und am Ende zur vollmundigen Ankündigung hinreißen ließ: „In deinem Alter, mein Lieber, war ich Meister bei den Schwarzwälder Schulmeisterschaften. Selbst wenn ich schon 30 Jahre nicht mehr auf Skiern gestanden bin, brause ich dir heute noch immer davon.“

Was soll ich sagen: Der kleine Mann nahm die Herausforderung auf der Stelle an, ich war gefangen in meinem Netz großspuriger Worte und musste mich fügen.

Drei Stunden später standen wir am Skihang. So steil hatte ich ihn mir nicht vorgestellt. An dieser Einschätzung änderte auch der Hinweis meines Sohnes nichts, dass dies bitteschön der Hang für Kinder und Anfänger sei. Der andere, der richtige, sei weiter rechts zu finden.

„Wollen wir hinüber gehen zu den richtigen Skifahrern?“ Ich wollte nicht. Mein Sohn genoss diesen Augenblick, in dem er erste Zweifel auf meinem Gesicht entdecken konnte. Im Grunde genommen wollte ich nicht mal den Kinder-Hang hinauffahren. Aber blieb mir eine Wahl?

Also rauf auf den Berg – mit all den Kindern um die drei oder vier Jahre.

Warum nur hatte ich mir beim Frühstück im entscheidenden Moment nicht auf die Zunge beißen können?

Oben angekommen, schienen die Jahre der Schulmeisterschaften plötzlich in himmelweiter Ferne. Ich hatte keine Erinnerung mehr. War ich wirklich schon mal auf Skiern gestanden? Die Gedanken kreisten, der Bauch rumorte, meine Finger wurden feucht. Mir war plötzlich schlecht.
50 Sekunden später war die Fahrt ins Ungewisse zu Ende. Ich lag im Schnee, die Skier beängstigend über Kreuz geschlagen, die Knie verdreht, das eine davon schon kurze Zeit später dick. Ich weiß nicht, was mehr schmerzte auf der Heimfahrt: Die Beine oder jene Analyse meiner Fahrt, die mein Sohn in die Länge zog wie einen gut durchgekauten Kaugummi. Er genoss diese Momente.

Fest steht: Mich bringt in meinem Leben keiner mehr auf diese schmalen Bretter. Viel schöner finde ich ohnehin Schlittschuh zu laufen. Übrigens: Ich war mal früher ein ziemlich guter Eishockey-Spieler. Ähhh, das behalte ich jetzt aber doch besser für mich.

Freddy Schissler


Im Dschungel der Technik

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Foto: Raab

 

Noch immer frage ich mich, wie ich künftig mein Leben meistern soll. Schuld daran ist eine Bahnfahrt. Die kann Nerven kosten und uns deutlich machen, dass wir im Dschungel der Technik mitunter hoffnungslos verloren sind. Mein Sohn und ich waren an diesem Tag spät dran, als wir am Hauptbahnhof ankamen. Wir rannten in die Bahnhofshalle. Vor dem Fahrkartenschalter hatte sich eine lange Schlange gebildet. Also hin zum Automaten. Ich sage es Ihnen gleich: Ich hasse die Dinger. Im Gegensatz zu meinem Sohn, der sie toll findet. Da brauche man, belehrte er mich, nur die Hand auf den Bildschirm zu legen und ein paar Mal zu drücken und schwuppdiwupp spucke der Automat eine Fahrkarte aus.

Ich wischte mit der Hand über den Bildschirm, drückte hier und dort – aber der Automat spuckte nicht. Stattdessen teilt er mir mit, dass ich den Zielbahnhof eingeben solle. Das hatte ich aber schon dreimal gemacht!

Ich merkte, wie es hinter mir unruhig wurde. Ich drehte mich um und sah viele ungeduldige Menschen in einer ähnlich langen Schlange wie jene am Fahrkartenschalter. Mein Sohn drängte mich, endlich die Fahrkarte zu lösen.

Ich begann zu schwitzen und startete einen neuen Versuch. Diesmal sprach ich leise vor mich hin, kommentierte jeden Schritt und sagte mir, dass ich schließlich auch wisse, wie man im Internet surft. Das gab mir Sicherheit, brachte aber keinen Erfolg. Dass ich auch nach diesem fehlgeschlagenen Versuch, ein simples Ticket aus einem Fahrkartenautomaten herauszulassen, mit der flachen Hand und voller Wut auf den Bildschirm schlug, fand mein Sohn peinlich und die Schlange an Leuten hinter mir verantwortungslos dem kleinen Jungen gegenüber.

„Der Automat ist kaputt“, stellte ich fest.
„Kann nicht sein“, widersprach mein Sohn. „Lass mich mal ran.“ Ich wich keinen Millimeter zur Seite und behauptete stattdessen mit leicht erhöhter Lautstärke: „Der Automat ist kaputt!“

Ich hasse diese Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn in aller Öffentlichkeit. „Jetzt lassen Sie schon Ihren Sohn ran. Wir haben es eilig.“ Ich kochte vor Wut, als ich feststellen muss, dass sich die Öffentlichkeit in unsere private Auseinandersetzung einmischte. Dann spürte ich eine Hand an meinem Pullover: Man zog mich einfach nach hinten.

„Hier nimm! Unsere Fahrkarte.“ Mein Sohn streckte mir nach wenigen Sekunden das Bahnticket entgegen. Ich spürte, wie ich rot anlief im Gesicht, und bevor ich etwas sagen konnte, wurde ich unsanft zur Seite geschoben. Die nächsten Reisenden drängten zum Fahrkartenautomat und ich frage mich noch immer, wie ich mich künftig alleine im Dschungel der modernen Technik zurecht finden soll.

Freddy Schissler

 

„Endstation – wegen vorübergehender Gleisarbeiten!“

 

aktiv im Leben 3/11 Kolumne

Foto: Raab

 

Die Frage, die ich mir stelle: Ist ein Unternehmen wie das der Deutschen Bahn haftbar zu machen für einen heftigen Familienstreit, der womöglich beim Scheidungsanwalt endet?

 

Ist sie unter Umständen regresspflichtig, wenn nach einer turbulenten Zugfahrt die Urlaubserholung in fernem Lande, die nicht gerade billig war, im Eimer ist? Bei unserer Familie jedenfalls hing der Haussegen ordentlich schief und daran ist, so sagt mir mein Gefühl, die Deutsche Bahn schuld.

 

Das kam so: Wir landeten nachts auf dem Flughafen in Stuttgart. Zu dieser Zeit bot die Bahn keine Zugverbindung mehr zu uns nach Hause an. Schade zwar, aber solche Dinge muss man akzeptieren. Immerhin hatten wir eine Alternative und übernachteten in Stuttgart bei der Schwester meiner Frau. Am nächsten Tag wurden wir (Frau, Mann, Kind und acht Gepäckstücke) zum Bahnhof gebracht. Eine Direktverbindung von Stuttgart zu uns nach Hause bietet die Bahn nur einmal am Tag an. Für die war es aber zu spät. Wir mussten auf unserer Rückreise umsteigen. Schade zwar, aber das muss man akzeptieren.

 

Als unsere acht (und gar nicht so leichten) Gepäckstücke endlich verstaut und der schweißgebadete Vater wieder trockengelegt war, begann unsere Fahrt ab Stuttgart Hauptbahnhof. Wir fuhren eine Stunde in einem komfortablen Intercity-Express – und freuten uns. Dann mussten wir umsteigen – und freuten uns nicht mehr.

 

Wir wechselten den komfortablen ICE mit einem Triebwagen, in dem die abgewetzten Sitze ihre besten Tage schon lange hinter sich hatten. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Gefühl kennen? Man will Platz nehmen, geht in die Hocke, erst ein Stück, dann noch tiefer – und spürt (noch) gar nichts. Die Sitze dieser alten Triebwägen befinden sich in erstaunlich großer Tiefe. Endlich dann treffen Hintern und Sitzauflage zusammen, was einen verkniffenen Gesichtsausdruck zur Folge hat. Jedenfalls war das bei mir so. Zum einen knallte ich mit dem Rücken unsanft an die harte Rückwand. Zum anderen war mir nicht klar: Hatte ich nun den Sitz berührt oder einen schlecht gefüllten Strohsack?

 

Ich wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Mein Wunsch sollte zunächst unerfüllt bleiben. „Leider“, verriet uns plötzlich ein Zugbegleiter, „müssen Sie aussteigen. Wegen vorübergehender Gleisarbeiten geht es ab hier mit dem Bus weiter.“ Das, beruhigte uns der Mann, als er unsere weit aufgerissenen Augen und mein schmerzverzerrtes Gesicht sah, sei aber alles kein Problem. Auf dem Bahnhofsvorplatz stünde ein Bus bereit.

 

Auf dem Bahnhofsvorplatz stand nichts bereit! Kein Bus in Richtung unserer Stadt, keine Getränke für die verärgerten Fahrgäste. Der Busfahrer hatte sich offenbar zwei Minuten vor unserer Ankunft aus dem Staub gemacht. Natürlich richtete sich mein Ärger zunächst gegen ihn. Dann aber verfluchte ich die Besitzer jener acht Gepäckstücke, die ich vom Bahnsteig an die Bushaltestelle zerren musste (zum besseren Verständnis meiner immer größer werdenden Erregung: Ich gehöre zu den Bandscheibengeschädigten dieser Welt – kleiner Vorfall im Halswirbelbereich, mittlerer in der Lendengegend. Und das bei einem Alter um die 50). Was ich noch betonen möchte: Mir gehörte von diesen acht Gepäckstücken nur eine mittelgroße Reistasche.

 

Um es auf den Punkt zu bringen: Mein Rücken schmerzte, das Kind verdurstete, der Vater brüllte und wollte wissen, weshalb man eigentlich zur Urlaubsreise den halben Hausstand mitnehmen müsse. Die Stimmung der Familie war im Keller, und noch immer frage ich mich, wer eigentlich für diese Familienmisere haftbar gemacht werden kann. Ich mit Sicherheit nicht.

 Freddy Schissler